978-3-328-30296-4

Das größte Geschenk – eine Weihnachtsgeschichte

Es war einmal ein Schneemann, der auf einer Wiese am Waldrand stand. Die Kinder hatten ihm keinen Schal um die Schultern geschlungen – er spürte die Kälte ohnehin nicht. Nicht mal einen umgedrehten Kochtopf hatte er als Hut bekommen, aber er stand dort so würdevoll, als trage er einen Zylinder. Schön machte ihn vor allem die dicke Karottennase, die weit über die schneebedeckte Wiese leuchtete.

© Laura Kier / www.weltenpfad.net

Die war auch dem kleinen Hasen aufgefallen, der jeden Tag hier entlanghoppelte. Sie blitzte verführerisch orange in seinem Sichtfeld auf, sodass er immer öfter hinsehen musste, je näher er dem Schneemann kam. Bald konnte er den Blick nicht mehr abwenden. Die Karotte war groß, saftig, und bestimmt schmeckte sie frisch und würzig, wie die Möhren in Bauer Kessmanns Garten. Schnuppernd setzte sich das Häschen auf die Hinterpfoten. Ja, ihm war fast, als rieche es nach den Kräutern, die im Frühjahr neben den Möhren im Beet standen. Nach den Kräutern, nach Salatblättern und …
Halt!, schalt er sich selbst. Energisch schüttelte er den Kopf, dass die langen Ohren nur so flogen. Nichts da! Träumereien und Erinnerungen machen nicht satt, nur hungrig! Aber die Karotte an diesem Schneemann, die war ja da … ob er nicht vielleicht … nur ein kleines bisschen? Unschlüssig legte er den Kopf in den Nacken. Die Möhre leuchtete weit über ihm. Wie sollte er da herankommen? Als er die Augen gegen die Sonne zusammenkniff, glaubte er fast, den Schneemann unter seiner Karotte lächeln zu sehen. Das war natürlich Unsinn. Continue reading “Das größte Geschenk – eine Weihnachtsgeschichte”

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Märchenhaftes zur Weihnachtszeit – Kleine Märchenkunde

Märchen gehören zur Weihnachtszeit wie Plätzchen und Tannenbaum. Und wen juckt es als Schriftsteller da nicht in den Fingern, mal selbst eines zu schreiben? Schwer kann es ja nicht sein …

Nur: Was genau ist eigentlich ein Märchen?  Es gibt viele Kriterien dafür – die aber fast alle auch in anderen Geschichten vorkommen können. Was also haben Aschenputtel oder das tapfere Schneiderlein mit Momo und dem kleinen Prinzen gemein? Hier eine kleine Einführung in die Welt der Märchen und des Märchenschreibens. Continue reading “Märchenhaftes zur Weihnachtszeit – Kleine Märchenkunde”

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Andersens “Die kleine Meerjungfrau” – “Show, don’t tell” im 19. Jahrhundert?

Eines der schönsten Märchen, die ich kenne, ist Hans Christian Andersens „Die kleine Meerjungfrau. Schon als Kind war ich von dieser Geschichte fasziniert, kannte aber natürlich nur moderne Neuadaptionen. In originalgetreuer Übersetzung gelesen (könnte ich doch nur dänisch!) entfaltet „Die kleine Meerjungfrau“ einen ganz besonderen Reiz. Andersens Sprache ist wunderschön, poetisch und voller Symbolik, und auch wenn die berühmte ‚fingierte Mündlichkeit‘ hier nicht ganz so zum Tragen kommt wie beispielsweise in „Die Schneekönigin, spürt man sie doch. Sehnsucht ist in alles hineingewoben, und man kann gar nicht anders, als die kleine Meerjungfrau zu mögen. Das Ende ist traurig und doch hoffnungsvoll, und man bleibt zurück mit Wehmut und Sehnsucht im Herzen und einem seltsamen, traurigen Glücksgefühl.

Bis heute hat mich die Intensität dieser Geschichte nicht mehr losgelassen. Wie nah Andersen mit seinem Werk an den heutigen Trends der Kinder- und Jugendliteratur liegt, wurde mir allerdings erst bewusst, als ich meine Märchenanalyse für Kinder- und Jugendmedien.de verfasst habe. Andersen schafft es, seine Leser mitten ins Geschehen zu ziehen – genau darauf achte ich auch im Lektorat heutiger Kinder- und Jugendbuchtexte (Stichwort „show, don’t tell“). Natürlich gibt es Unterschiede, Andersen war trotz allem ein Kind seiner Zeit. Für mich machen diese Ähnlichkeiten „Die kleine Meerjungfrau jedoch noch faszinierender – ein Märchen zwischen Romantik und Realismus, das (in gewissem Maß) bereits heutige Trends vorwegnahm.

Wer mag, kann den Märchenartikel hier nachlesen: Hans Christian Andersen – Die kleine Meerjungfrau. Kinder- und Jugendmedien.de (Universität Bremen)